Interview mit Massimo Carlotto
Gekürzt in taz vom 25.10.08
AW: Herr Carlotto, in ihrem gerade auf deutsch erschienen Roman “Die dunkle Unermeßlichkeit des Todes” beschreiben Sie eine auf den ersten Blick private Tragödie: Ein Berufsverbrecher tötet auf der Flucht Frau und Kind eines wohlhabenden Weinvertreters, der dann selbst zu einer Art Rachemonster wird. Ist dieser Herr Contin ein typischer Vertreter des reichen italienischen Nordostens, dessen Gesellschaft im Wandel sie schon in zahlreichen Büchern dargestellt haben?
Massimo Carlotto: Ja, er war es vor dem Mord, vor der Tragödie. Dann stürzt er in einen Strudel der Verzweiflung, der ihn zu einem anderen macht, zu einem, der an nichts mehr glaubt, auch nicht an den Erfolg. Ich habe das Buch im Nordosten angesiedelt, weil in dieser Region sehr stark bestimmte Gefühle sozialer Verweigerung zum Ausdruck kommen. Alles, was der Reformismus der vergangenen Jahrzehnte geleistet hat, wird abgelehnt. Übrig geblieben ist eine tief rassistische und individualistische, ausschließlich auf Geld gegründete Gesellschaft. Allerdings setzt sich der Roman vor allem mit einem spezifischen Thema auseinander, dem Thema der Rache, der Vergebung und der Rolle des Staates dabei.
Geht es dabei auch um ihre persönliche Geschichte? Sie wurden ja selbst erst nach einer jahrzehntelangen Odyssee durch Gefängnisse 1993 begnadigt.
Nein, an mich habe ich beim Schreiben nicht gedacht. Hier geht es um etwas ganz anderes. Das Buch ist entstanden, weil der ehemalige Staatspräsident Ciampi entschied, den Familien der Opfer das Recht zu übertragen, über Gnadengesuche zu entscheiden und die Rolle des Staates aufzuheben. Das hat zu einem massiven Rückgang der Begnadigungen geführt. 98 % der Familien antworten mit ,nein’. Also habe ich diesen Roman geschrieben, um die Abwesenheit des Staates anzuklagen. Denn in Italien versucht der Staat inzwischen alles, um sich zurückzuziehen, um nicht Staat zu sein. In diesem Fall aus Angst vor den Wählern, niemand will Verantwortung übernehmen. Ich habe eine Serie von Interviews geführt mit Opferfamilien, die ein Gnadengesuch abgelehnt haben. Ich habe mich bei dieser Gelegenheit mit einer Videokassette präsentiert, in der man Bilder sieht, die unmittelbar im Anschluss an Hinrichtungen in den USA gemacht wurden. Die Leute waren danach glücklich. Sie hatten gerade gesehen, wie jemand stirbt. Es geht also um die Heuchelei im katholischen Italien, dieses Gerede, dass man vergeben muss, dass sich alle gern haben, etc. - nein, die Leute hassen sich, sie hassen sich tief. Dieser soziale Hass ist im Nordosten eine Realität, der Haß gegen Asylanten, Rumänen, Zigeuner usw.
Ist das ein neues Phänomen oder handelt es sich um einen alten, quasi ,genetischen’ Haß?
Es ist ein genetisches italienisches Phänomen. Es war viele Jahre unter Kontrolle durch den progressiven Teil der Gesellschaft, der eine gewisse Macht hatte und dem Rest eine Kultur der Reform, der Solidarität vorgeben konnte. Das gibt es heute nicht mehr. Man sieht die Resultate, diese Dimension des Hasses, die jetzt aufsteigt und die typisch ist für einen anderen Teil Italiens, der jetzt an der Macht ist, ein sehr viel reaktionäreres, rückständigeres Italien.
Wie ist heute die Situation des progressiven, linken und liberalen Teils der italienischen Gesellschaft?
Dieser Teil versucht immer noch, die Gründe für eine epochale Niederlage zu begreifen. Von 1945 bis heute hat es so etwas nicht gegeben. Zudem ist die Linke tief gespalten. Die Demokratische Partei (PD) hat etwa ein Drittel der Stimmen bekommen, aber das waren nicht alle progressiven Stimmen. Ich zum Beispiel habe sie nicht gewählt und das auch öffentlich erklärt. Das haben viele gemacht. Wir wollten nicht Leute ins Parlament schicken, denen wir nicht mehr vertrauten. Auch um den Preis der Niederlage, denn eine Niederlage wäre es sowieso geworden. Deswegen versucht man jetzt, einen progressiven Grundbestand zu bewahren, von dem aus man in der Lage ist, sich politisch und kulturell auszudrücken. Aber ohne Kontrolle der Zeitungen, der Verlage und des Fernsehens wird das sehr schwierig. Darüber hinaus gefährdet das neue Pressegesetz die Existenz wichtiger Zeitungen wie “il manifesto”. Das ist ein demokratischer Notstand, der allerdings nur einen kleinen Teil der Bevölkerung alarmiert. Die Mehrheit im Land interessiert das überhaupt nicht.
In Deutschland galt Italien immer als antirassistisches Land par excellence. Nun gibt es ein Phänomen wie das der “Lega Nord”, die sich auf eine primitive Art rassistisch äußert und bei den letzten Wahlen einen großen Erfolg in allen gesellschaftlichen Schichten des Nordens erzielte. Wie ist das zu erklären?
Die “Lega” war die einzige Partei, die den Anstieg der Lebenshaltungskosten zum Thema gemacht hat. Deswegen ist sie - auch unter den Arbeitern - im Norden die stärkste Partei. Das hat die Linke nicht gemacht. Warum? Linke Gruppierungen wie “Rifondazione” oder die “Grünen” waren mit sich selbst beschäftigt. Die PD ist vor allem Berlusconi hinterher gelaufen. Deswegen wurde die “Lega” zur stärksten Partei. Wenn sie an der Macht sind, nehmen sie als erstes der Kultur das Geld weg. Kürzlich war ich zu einer Diskussion in Treviso eingeladen, das von der “Lega” regiert wird. Veranstalter war aber der Kulturdezernent , der Berlusconis “Forza Italia” angehört. Aber er hatte kein Geld, keinen Etat, er brauchte private Sponsoren. Die “Lega” interessiert Kultur nicht, das sagt viel über sie aus. Sie haben sich eine völlig irreale Ideologie zurechtgezimmert, eine Heimat und eine Geschichte konstruiert, die es nicht gibt. Es ist eine rein ökonomische Heimat. Das Motiv des Rassismus ist politisch und ökonomisch. Denn es waren die Ausländer, die den Nordosten reich gemacht haben, vor allem durch die Schwarzarbeit. Wenn man sie zu regulären Arbeitskräften und Staatsbürgern gemacht hätte, dann wären sie heute, in der Krise, ein Kostenfaktor. Im Moment der Krise sollen sie gehen. Das ist das Grundmotiv. Das repräsentiert die “Lega”. Sie möchten auch eine kleine Föderation machen mit Österreich und Slowenien, vielleicht noch mit dem Süden von Bayern: Eine kleine, reiche Alpenfestung gegen “Roma ladrona”, das räuberische Rom, das ihre Steuern ,stiehlt’. Das ist natürlich nicht möglich, aber das erzählen sie den Leuten. In Wirklichkeit gefällt es den “Leghisti” in Rom hervorragend. Sie sind sehr, sehr gern dort, an der Regierung und auch politisch auf diese Präsenz in der nationalen Politik angewiesen. Mit ihren Abspaltungsparolen, kann Berlusconi nicht einverstanden sein, auch die Ex-Faschisten “Alleanza nationale”, der andere Koalitionspartner, nicht.
Wie war die Verbindung der “Lega” zum tödlich verunglückten Jörg Haider?
Das war die gleiche politische Richtung, eine, die sich auf einfache Parolen stützt. Haider war sehr wichtig für die “Lega”, ein politisches Modell, das sie inspiriert hat. Haider wurde immer zitiert und kopiert - und die Trauer über seinen Tod war groß. Es sind beides Bewegungen, die sehr auf ihre Führer zugeschnitten sind. Umberto Bossi, der Leader der “Lega” hat wie Haider auch alle aus der Partei gedrängt, die ihm Konkurrenz hätten machen können. Er hat überall aufgeräumt für sich und seine Gang. Die anderen sind alle weg. Wenn Bossi 2004 an seinem Herzinfarkt gestorben wäre, dann hätte die “Lega” nicht viel ausgerichtet. Auch der kranke Bossi ist ein Märtyrer für seine Leute . Bossi ist immer schlecht gekleidet, unfrisiert, ganz anders als der italienische Politiker sonst auftritt. Der “capo” schläft nicht. Das sind Verhaltensweisen, die sich an bestimmte Wählerschichten heranmachen und dort großen Erfolg haben.
Was ist die Zukunft der “Lega”?
Es wird sie noch lange geben. Sie muß ihre separatistische, kriegerische Rhetorik zwar immer weiter steigern. Aber sie ist präsent auf den Straßen und hat politisch ein einfaches Leben, denn sie operiert ausschließlich auf der Basis von Rassismus. Nicht nur gegen die Ausländer, auch gegen die Süditaliener. Sie wollen zum Beispiele die Beamten, die aus dem Süden stammen, nach Hause schicken, das pinseln sie jedenfalls an die Häuserwände. Sie haben ein immer kriegerischeres, gewalttätigeres Vokabular. Sie haben ihre “Guardia nazionale padana”, die padanische Nationalgarde, die in den Straßen auf die Jagd gehen nach angeblich kriminellen Ausländern. Die Polizei ist sauer deswegen, weil sie einen Haufen Zeit verliert. Einerseits gibt es also diese ausländerfeindlichen Säuberungsaktionen, auf der anderen Seite dient das alles nur dazu, von der Realität abzulenken, dass Italien ein südamerikanisches Land mitten in Europa ist, in dem Korruption und Verbrechen monströse Ausmaße angenommen haben. Wir haben Regionen, die komplett in der Hand des Verbrechens sind; wir haben mafiose Verhältnisse gegen die kaum etwas unternommen wird. Das große Verbrechen, also das, welches mit der Finanz- und Politikwelt verbunden ist, wird nicht thematisiert. Nur vom kriminellen Rumänen, Zigeunern usw. spricht man. Was die Mafia betrifft, taucht nur die Camorra noch in den Zeitungen auf, wegen des Buchs “Gomorrha” von Roberto Saviano.
Wir müssen jetzt doch einmal über Berlusconi sprechen: “Er ist so italienisch”, hat ein Kollege von Ihnen, Giancarlo De Cataldo, geschrieben. Ist Berlusconi das Idol der Italiener?
Ja, leider ja. In dem Sinn, dass er sehr geschickt war vor allem auf zwei Ebenen: Erstens hat er ein Bild von sich kreiert, das absolut überzeugt und dieses Bild variiert er immer wieder. Zur Zeit etwa trägt er keine Krawatte mehr, ist immer öfter in schwarz gekleidet, macht es genau wie Mussolini, kopiert seine Gesten, wenn er mit dem Besen durch Neapel läuft, macht Witzchen: Kürzlich hat er gesagt, er werde länger regieren, als “dieser andere da”. Er spielt darauf an, dass er die zwanzig Jahre an der Macht voll machen will, eben wie Mussolini. Berlusconi wird bestimmt noch Präsident der Republik. Er war wirklich unglaublich geschickt. Zweitens ist sehr wichtig, dass er einen sozialen Block kreiert hat, den Berlusconismus, der von und durch seine Politik verdient, der ihm die Zukunft garantiert. Mittlere und kleine Unternehmer, in die er investiert hat, aber auch normale Leute, die nichts an seiner Politik verdienen, im Gegenteil, es geht den Leuten immer schlechter. Berlusconi ist wie Bush und Putin. Nicht zufällig ist er mit ihnen befreundet. Das unterste Niveau in der Politik, diese Typen, die die ganzen Welt ruinieren, aber die drücken unbeirrt ihre Ziele durch. Er sagt was, und zwei Minuten später leugnet er einfach, aber das ist für ihn kein Problem. Mit dieser Art hat er die Opposition total überwältigt. Er hat eine ganz präzise Figur von sich konstruiert. Und seine Medienmacht darf man auch nicht vergessen, sie ist enorm. Er hat mit seinen Medien auf wissenschaftliche Art einen Großteil der Bevölkerung indoktriniert. Und als letztes, ohne allzu sehr auf Verschwörungstheorien zu verfallen: Das Projekt Berlusconi folgt genau dem Plan der Geheimloge P2 aus den achtziger Jahren zur konservativen Umgestaltung der italienischen Gesellschaft. Heute können wir nicht mehr hinter Berlusconi zurück. Es gibt zur Zeit nicht mal die Instrumente, um seine Macht anzugreifen.
Gibt es eine neue Generation, die daran etwas ändern könnte?
Es gibt ein grundsätzliches Problem, das ich in meinem nächsten Roman überprüfe und angehe. Ein Beispiel: In Vicenza soll die amerikanische Militärbasis zur größten Europas ausgebaut werden, ein Projekt, das die Stadt, eine traditionell rechte Stadt, vollkommen aufwühlt. Man will ein Referendum. Aber die Regierung hat das ganz hart abgelehnt, die Basis wird gebaut, basta. Daraufhin hat Berlusconis Bündnis “Polo delle libertà”die Wahl verloren. Jetzt gibt es in Vicenza eine Mitte-Links-Regierung. Aber das ist denen ganz egal. Und warum? Weil, sobald es eine Kampfsituation gibt, schreitet die Polizei so massiv ein, dass der Kampf sinnlos ist. Es ist ein Kampf, den man nicht gewinnen kann. Deswegen muss man in Italien erst die Zentralregierung zurückerobern, also durch Wahlen, und die Dinge grundsätzlich ändern. Auf lokaler Ebene gibt es kein Hoffnung mehr. In Italien, das muss man klar sagen, sind die demokratischen Spielräume auf ein Minimum reduziert. Es gibt einen Demokratienotstand. Es gibt also gar keine Räume, für eine neue Generation - so willkommen sie wäre - und wenn sie nicht zur Wahl geht und eine fähige Regierung kommt dann ist es sehr schwierig - nicht eine wie die Regierung Prodi, die alles getan hat, um die Linke zu zerstören.
Was hat die Regierung Prodi falsch gemacht?
Sie wollten Berlusconi kopieren, sie hatten vor allem keinen Mut. Die beiden linken Regierungen waren charakterisiert durch eine absolute Absenz von Mut. Sie haben sich überwältigen lassen. Bestes Beispiel ist der Müllnotstand in Kampanien, ein Skandal, der durch die ganze Welt gegangen ist. Es hätte nicht viel gebraucht, um das Problem zu lösen, denn es war klar, dass die Camorra dahinter steckte. Dann kam Berlusconi, dieser hat mit jenem gesprochen, und die Sache war erledigt. Wähler wie ich, die die Linke gewählt haben und dann sehen mussten, dass kein einziger Punkt des Programms umgesetzt wurde - dann wählst du sie eben nicht mehr, weil es zu nichts führte. Berlusconi hält seine Versprechen - nicht für den ärmeren Teil der Bevölkerung, aber für die Unternehmer. So entsteht ein sozialer Block. Auf jeden Fall sieht es so aus, als ob etwas geschieht. Und dann wählt der Italiener sie eben.
Wie wirkt sich die Bankenkrise auf Italien aus? Was macht Berlusconi?
Die Panik kam, als Berlusconi gesagt hat, das italienische Bankensystem sei sicher. Dann waren alle aufgeregt. Denn das ist natürlich unmöglich, wenn das globale System zusammenbricht. Die wertlosen Aktien haben viele gekauft, es gibt jede Menge Betrogene. Nach dem italienischen Gesetz garantieren die Banken Einlagen bis 103.000 €. Aber die Banken haben das Geld nicht. Es gibt also das Risiko eines Zusammenbruchs. Der Immobilienmarkt ist schon zum Erliegen gekommen. Die Angst ist enorm. Die Krise ist sehr gefährlich. Es wird eine Revolution des Finanzmarkts geben und man muss abwarten, welche sozialen Folgekosten entstehen.
In Deutschland hat man Hoffnungen auf einen “New deal” nach der Krise, zum Beispiel durch Investitionshilfen für eine ökologische Modernisierung.
So etwas ist in Italien unmöglich. Hier setzen sie auf Kernkraft. Aber die wissen nicht mal, wie man das macht. Es ist eine Kaste, die nicht Politik machen kann. Sie sind nicht in der Politik aufgewachsen wie die Leute vor 20 Jahren. Das sind heute Leute, die herausgerissen wurden aus ihrer Arbeit, um Karriere zu machen - und das merkt man. Sie haben keine Idee, wie man das Land voranbringen kann, es gibt keinen Plan für die Energieversorgung, nichts.
Was ist ihre persönliche Hoffnung?
In dem Ambiente, in dem ich mich bewege - Schriftsteller, Musiker, Schauspieler - denken wir, dass man gerade in dieser Phase widerstehen muss. Wir warten auf bessere Zeiten und versuchen, ein kulturelles Netz zu knüpfen, in dem man etwas Gutes und Nützliches machen kann. Die linke Politikerkaste hat keine Idee. Wir müssen was Neues machen.
Die Rolle der Kultur ist also besonders wichtig?
90 % von uns publizieren für Berlusconi, das ist das Lustige. Denn wir leben nun mal in einem Markt. Und eine so starke Krise wie jetzt macht den Markt für Kultur noch kleiner. In Italien gibt es keine Zensur. Wenn ich beim Verlag “Einaudi” anrufe,und sage, ich will ein Buch gegen Berlusconi machen - kein Problem. Aber bei der “Rai” einen Spielfilm gegen ihn - keine Chance. Buch ja, TV nein. Nur ein bestimmter Teil der Kultur schafft es ins Fernsehen. Das Fernsehen drückt viel aus. Die Wiedereroberung des Fernsehens, die Einwirkung auf breite Bevölkerungsschichten - das ist wichtig. Ein Fehler von uns war, sich einzuschließen in unserem eigenen Ambiente. Die Linke wird gerade auch von der “Lega” als snobistisch und schwächlich wahrgenommen und verspottet, als Leute, die alles kompliziert machen, die es nicht schaffen sich zu Gehör zu bringen. Und das ist nicht ganz unwahr.
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