Von Branntwein toll und Finsternissen - ein hübsches Buch über Renegaten-Piraten

Allgemein, oltràlpe — admin on Februar 8, 2010 at 20:47


Zu den Dingen, die man irgendwann aufhört verstehen zu wollen, gehört das hiesige Verlagswesen. Da gibt es, seit seinem Erscheinen in Italien im Jahr 2008, ein Buch des auch in Deutschland - allerdings nur mit einem Bruchteil seines Werks - bekannten und von Kritikern wie Lesern geschätzten Massimo Carlotto. Es trägt den schönen Titel „Christiani di Allah - Un noir mediterraneo” (den man vielleicht nicht übersetzen muss) und gibt, abgesehen von der Tatsache, daß Carlotto wie immer handwerklich perfekte Krimiware abliefert, zwei höchst aktuellen Diskursen eine Menge Futter: Der Debatte um den Islam und der um die Piraterie.

Carlotto erzählt die Geschichte eines schwulen Liebespaares, das sich im 16. Jahrhundert an dem wohl einzigen Ort trifft, wo es sich in Frieden gern haben kann: in der Korsarenrepublik Algier. Voraussetzung dafür ist lediglich der eher lax gelebte Übertritt zum Islam. Mit dem stehen sie keineswegs isoliert da. Denn ein großer Teil der von der frühen Neuzeit bis zur europäisch-kolonialen Eroberung im genannten Algier, in Tripolis, Tunis und im marokkanischen Salé-Rabat Heimat und Freiheit findenden Korsaren war christlicher Herkunft: Sie waren Renegaten, die erklärten Scheusale des heiligen Europa, wo, wer als einfacher Mann geboren war, dies gottbefohlen auch zu bleiben hatte; im Maghreb hingegen zählte Leistung. Dem frühmodernen Kaperunternehmer stand die Tür zur ursprünglichen Akkumulation offen, unter großen Gefahren freilich und mit strukturellen Risiken: Zum einen befanden sich die Stadtrepubliken unter türkischer Oberhoheit - der ins Private des Männerpaares hinein brechende Konflikt mit dieser Staatsgroßmacht steht im Mittelpunkt von Carlottos Roman; zum anderen beschlossen nicht wenige der „renegados” ihr Leben auf den Ruderbänken spanischer Galeeren oder denen der für ihre Grausamkeit gefürchteten Malteserritter, die wie ihre maghrebinischen Gegenüber ihre Hauptumsätze selbstverständlich mit dem Sklavenhandel erzielten.

Von Peter Lamborn Wilson - auch bekannt unter dem Pseudonym Hakim Bey und, um wenig zu sagen, ein nicht unumstrittener anarchistischer Intellektueller - ist Ende vergangenen Jahres im verdienten Karin Kramer Verlag ein Buch auf Deutsch erschienen, daß Carlotto für seine Recherchen bestimmt gelesen hat. Der Originaltitel macht klar, warum: „Pirate Utopias. Moorish Corsaires&European Renegados”. Darum geht es; und im besonderen um die Republik Salé, denn die war das Gemeinwesen, welches dem Zugriff der Hohen Pforte in Konstantinopel entzogen war, „ein wirkliches Piratenutopia”, wie Wilson schreibt. Diese Gemeinschaft steht im Mittelpunkt seiner wie ein Segler auf dem Ozean auf der Suche nach Beute hin- und herkreuzenden Untersuchung. Er muß, um die Analogie noch ein wenig weiter zu bemühen, sich oft genug auf Gerüchte und Vermutungen verlassen, bewegt er sich doch auf dem offenen Meer der Nicht-Überlieferung. Die Renegaten waren Europäer aus den Unterklassen. Sie schrieben nicht auf, was sie erlebten, dachten und fühlten. Sie begegnen uns in den Archiven nur als reich gewordene „reises” (Kaperkapitäne) oder, in den europäischen Chroniken, als Ausgeburten der Höllen, als Apostaten, die immer ein schlimmes Ende nehmen.

Das dem mitnichten so war, dafür liefert Wilson Beispiele. Die Seeleute schildert er als Protoproletariat der Neuzeit. Schlechter als etwa auf ein englisches Kriegsschiff gezwungen zu werden, konnte man es nicht treffen, so die im Volk feststehende Anschauung. Ein Geflüster müsse von Schiff zu Schiff gegangen sein, daß es die reale Möglichkeit eines ganz anderen Lebens gab als im stickigen (kalten und feuchten) Europa. Im Maghreb konnte man, Glück und Kühnheit vorausgesetzt, Mitglied im Taiffe reisi werden, dem Rat der Kapitäne, man konnte ein freier, gar ein berühmter Mann werden wie Khaireddin Barabarossa, ein albanischer Bauernjunge, der es bis zum Oberbefehlshaber der türkischen Flotte des Sultans brachte. Oder wie Morat Reis, ein weiterer Albaner, der die Spanier in der gefährlichen Straße von Gibraltar ein ums andere mal austrickste, der mit seinen fürs ruhige Mittelmeer ausgelegten Schiffen den Atlantik befuhr, um die Kanaren schön systematisch auszuplündern.

Dabei waren die Piraten nicht unnötig grausam - Angst und Schrecken zu verbreiten gehörte zum Geschäft und hielt die eigenen Verluste gering. Als Murad Rais alias Jan Janz aus Haarlem, Holland im Jahr 1627 nach Island aufbrach und angeblich vierhundert Inselbewohner in die Sklaverei überführte, starben lediglich vier auf der langen Reise zurück nach Algier. Frauen und Kinder durften sich auf Deck frei bewegen und bleiben - christlichen Berichten zufolge - unbelästigt. Daß dies keinen sentimentalen Hintergrund hatte, mußte ihnen mit der Ankunft auf den Sklavenmärkten klar werden. Hier wurden Familien nach Angebot und Nachfrage getrennt.

Von gelegentlichem Überschwang abgesehen gelingt es Wilson die Sache in ihrer ganzen traurigen Nüchternheit darzustellen; und ohne diesen islamophilen Überschwang hätte er wohl kaum eine auf relativ knappem Raum so spannend zu lesende und enorm materialreiche Darstellung hinbekommen. Drücken kann man sich am Schluß allerdings um eine Anmerkung kaum: Freiheit und „the pursuit of happiness” wie sie damals Salé und die anderen Korsarenrepubliken boten, suchen heute Hunderttausende auf dem gleichen Weg übers Meer - nur in umgekehrter Richtung; doch sie sind nicht willkommene Fachkräfte, wie einst die christlichen Seeleute bei den „Türken”, sondern sie sterben zigtausend fach im Mittelmeer, dem neuen Eisernen Vorhang, der Europa von Staaten abgrenzt, die dem Individuum wenig Chancen lassen. Religion ist Subideologie, die den jeweils herrschenden Verhältnissen angepaßt wird. Wer aus Wilsons Buch folgert, ‘der Islam’ sei freiheitlicher und humaner als das Christentum, liegt falsch. Wir können und müssen beides hinter uns lassen. Die Zeiten ändern sich, und wir und unsere Ideen ändern sich in ihnen. Vielleicht erwacht ja demnächst sogar das deutsche Verlagswesen und beschert uns „ Christen Allahs” von Massimo Carlotto.

Peter Lamborn Wilson: Piraten, Anarchisten, Utopisten - Mit ihnen ist kein Staat zu machen, Karin Kramer Verlag, 2009

Massimo Carlotto: Christiani di Allah,  edizioni e/o, 2008

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