Keine Katharsis

Allgemein, Aus den Archiven, Mafia und Anti-Mafia — admin on Oktober 16, 2012 at 13:54

 Ein Nachtrag aus den Archiven. Und immer noch eine Empfehlung: “Gomorrha” - Der Film. Über Roberto Saviano hört man von italienischen klugen Leuten wenig Gutes, er sei zur Kreatur von “la repubblica” verkommen. Mag sein. Schmälert aber nicht seinen ursprünglichen Mut.

Man ist im Bus eingeschlafen, wird schließlich vom Fahrer wachgerüttelt: Endstation. Man steigt benommen aus, und gleich stehen die Füße im Matsch. Denn hier, wo man gelandet ist, gibt es keine Bürgersteige. Es gibt ja auch keine Bürger. Und während man, noch leicht benommen, gar nicht schnell genug schaltet, um den Rücklichtern nachzujagen, die einen zurück in die Zivilisation bringen könnten, erhebt sich vor einem ein mönströses Gebilde aus aufeinandergetürmten Betonplatten. Aus seinen dunklen Ecken, über verwahrloste Freiflächen, nähern sich Gestalten, solche, denen man aus sicherem Abstand immer gern vorurteilsfrei zu begegnen sich vorgenommen hat.

Die sado-bourgeoise Variante dieser Vision las ich einst im Tagesspiegel: Wenn man als Kreuzberger Besuch aus München bekommt, dann sei es eine nette Einstandsidee, sich mit dem Gast am Kotti zu verabreden - und ihn dort zwanzig Minuten warten zu lassen. Die Besonderheit Berlins, wissen die Stadtsoziologen, sei es, daß sich das Subproletariat, die Berber und die Junkies noch nicht hätten in die Peripherie abdrängen lassen, sondern sich rund um die erweiterte Stadtmitte gruppierten.

Liefern wir noch die Innensicht des Phänomens: Es gebe, erzählte mir mal ein Stadtallendorfer Hiphopper, für coole Jungs wie ihn nichts Besseres als in dieser urbanen Katastrophe in den oberhessischen Wäldern aufzuwachsen; aber für die Zugezogenen, für die sei es natürlich unmenschlich.

Matteo Garrone bündelt in seiner Adaption des Dokuromans »Gomorrha« von Roberto Saviano (siehe jW vom 8.9.07) das Geschehen in Scampìa, einer Vorstadt in der nördlichen Peripherie Neapels. »Le Vele«- die Segel- nennen sich die verrottenden Blocks, in denen der Camorra-Clan der Di Lauro und seine Abspaltung - die »Scissionisti« - um die Vorherrschaft auf dem größten Drogenumschlagplatz Europas kämpfen. Die Gegend hat zu viele positive Standortfaktoren, um sie abzuschreiben: ein riesiges Potential an jungen Arbeitskräften ohne Alternativen sowie die Absenz staatlicher Institutionen. Klingt vertraut. »Die Operationen, mit denen die Clans ihre Macht behaupten, die Manipulationen, mit denen sie ihre Geschäfte in Gang halten, ihre Investitionsstrategien zu kennen, das bedeutet, in jeder Hinsicht verstanden zu haben, worum es heute geht, und nicht nur im Land der Camorra«, schreibt Saviano am Schluß seines Buches.

Im Film ist die Vielschichtigkeit der Erzählung und der Analyse der Vorlage nicht herzustellen. Garrone versucht es erst gar nicht. Was ihm hervorragend gelingt, ist, dem Zuschauer über mehr als zwei Stunden eben das Gefühl zu vermitteln, an der falschen Bushaltestelle ausgestiegen, am undechiffrierbaren Ort alleingelassen, ein chancenloser Eindringling zu sein. Er selbst sagt: »Die Realität, von der ich ausgegangen bin, um »Gomorrha« zu drehen, war optisch so eindrucksvoll, daß ich sie mit extremer Einfachheit zu filmen versucht habe, so, als wäre ich ein Zuschauer, der sich rein zufällig am Schauplatz des Geschehens eingefunden hat.«

Eine Katharsis findet nicht statt. Die Protagonisten der vier Episoden des Films akzeptieren die Lebensbedingungen, in die sie hineingeboren wurden, sie passen sich an, sie bejahen sie sogar. Die Aussteiger sind dem Zuschauer dabei noch am vertrautesten, denn sie sind Subjekte bürgerlicher Arbeitsmoral. Doch als der junge Roberto (Carmine Paternoster) das Auto seines Arbeitgebers Franco (Toni Servillo) verläßt - und damit das Geschäft der illegalen Giftmüllentsorgung - führt ihn sein Weg ins Nirgendwo einer desolaten Landschaft. Der Schneider Pasquale (Salvatore Cantalupo) dagegen zieht sich aus der camorrafinanzierten Haute Couture zurück, nachdem er wegen eines Nebenjobs bei der chinesischen Konkurrenz nur knapp einem Anschlag entgangen ist. Als Lastwagenfahrer sieht er an einer Raststätte im Fernsehen die Oscar-Verleihung. Scarlett Johansson trägt das Kleid, an dem er wochenlang für sechshundert Euro im Monat gearbeitet hat. Er startet den Wagen und fährt in die Nacht. Im Roman reichte der gekränkte Stolz des Spitzenhandwerkers, im Film geht es dramatischer und pessimistischer zu. Garrone versperrt die Ausgänge, zeigt das Skelett der Gewalt und den Menschen als Material, ja buchstäblich als Müll, der mit Planierraupen entsorgt und begraben wird.

Keine Helden, kein Camp, kein Glamour, keine Ironie: Mit der Tradition der Mafiafilme vom »Paten« bis zu den »Sopranos« hat Garrones »Gomorrha« nichts zu tun. Vielmehr steht das in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnete Drama in der Nachfolge der beklemmenden italienischen Dokuthriller der 1970er Jahre à la »Il caso Mattei« (Der Fall Mattei).

Italien mag der kranke Mann Europas sein, Schattenwirtschaft und Kunst stehen jedenfalls in einer Blüte, deren wechselseitige Beziehung - Roberto Saviano muß als Autor eines internationalen Bestsellers nie mehr arbeiten, allerdings wohl sein Leben lang unter Polizeischutz leben - Klügere als ich analysieren sollen. Die jugendlichen Laiendarsteller aus Scampìa mußten ihre Lektion jedenfalls schon lernen: Die von ihnen besuchte Schule des Staates, der in Gestalt seines exkommunistischen Präsidenten Giorgio Napoletano dem Film durch seine Anwesenheit bei der Premiere die offiziellen Weihen verlieh, ließ sie am Ende des Schuljahres allesamt durchfallen, schreibt der Corriere della Sera.

erschienen in junge welt

Wie die Mafia auch im »sauberen« Norditalien Fuß gefaßt hat.

Allgemein, Mafia und Anti-Mafia, oltràlpe — admin on Oktober 16, 2012 at 13:44

Die Telekom läßt gerade mal wieder unglaublich kreativ für sich werben: Mit dem berühmten Angebot, das man nicht ablehnen kann; und auch der Klett-Cotta-Verlag konnte dem Schwachsinn einfach nicht widerstehen, das überhaupt nicht verkehrte Buch »Die Mafia - 100 Fragen, 100 Antworten« des renommierten Journalisten Attilio Bolzoni mit einem »Mafia-Gewinnspiel« zu vermarkten.

Es ist eben so: In Deutschland gibt es - die Morde von Duisburg im August 2007 hin oder her - Lokale, die »Kuchen-« oder »Schnitzel-Mafia« heißen - aber die italienischen Mafien und ihre »locali«, ihre Stützpunkte also, die gibt es so gut wie nicht. Beziehungsweise: Es gibt sie schon. Aber eben da drunten, in diesem immer noch auf gespenstische Weise exotischen Land, keine zwei Flugstunden von der deutschen Hauptstadt entfernt. Insofern ist höchste Skepsis angebracht gegenüber jeder Übersetzung aus dem Italienischen, die das Mafia-Thema hier auf dem Buchmarkt zu plazieren versucht: Zu vielleicht keinem anderen Gegenstand kann man so seriös arbeiten, ohne die geringste Chance zu haben, durch die teutonische Haha-Ignoranz zu dringen.

»Mafia AG« von Giovanni Tizian (geboren 1982) - einer Art kleinen Bruder der Ikone Roberto Saviano - ist so ein sehr ernsthaftes, unter großem persönlichen Leiden des Autors entstandenes Buch, das aber hier nur ankommen kann als Geschichte aus dem Dschungel. Das liegt nicht an der heruntergerissenen Übersetzung; und es liegt auch nicht ausschließlich am fehlenden Anmerkungsapparat. Aber gerade die Abwesenheit des letzteren - also eines speziell für deutsche Leserinnen und Leser konzipierten - ist eben der Beweis, daß es dem Verlag nicht um Verstehen geht, nicht um Analyse und damit um Übertragbarkeit; es geht um den Grusel. Und dafür, um es einmal mir persönlich sehr unangenehm betroffen zu sagen, schäme ich mich wirklich vor meinen Freunden, etwa im süditalienischen Kalabrien, die für eine grundsätzliche Idee von Freiheit ihre Haut riskieren. Wer also noch einmal den »Paten« in den Mund nimmt, um sich dem Phänomen Mafia zu nähern, der muß wissen, daß sein folkloristisches Reden über die Mafia eben diese in aller Ruhe weitermorden läßt.

Giovanni Tizian ist ein Opfer der Ndrangheta, des von Kalabrien aus weltweit operierenden Syndikats für Wirtschaftskriminalität. Ach, so sagt man das? Na ja: Es geht um Geld. Ausschließlich. Was davon an die Oberfläche der Wahrnehmung kommt, sind oft genug nur die Mittel, die der Gewinnmaximierung dienen. Die besondere Form der ndranghetistischen Wirtschaftskriminalität ist die mörderische, feige Gewalt, gepaart mit der Begeisterung für alles Neue, das der Geldvermehrung dienen kann. Die Ndrangheta ist eine Art SS - und dieses Bild, das wie alle Bilder unvollkommen und gefährlich ist, verweist aber immerhin darauf, daß die Mafia zum Staat, zum System gehört. Sie operiert in einer in Italien viel diskutierten »grauen Zone«, im Verbund mit korrupten Politikern, Geheimdienstlern, Managern, Staatsanwälten, Polizisten - und Journalisten, Ärzten, Architekten etc. Gleichzeitig wäre es aber ein Fehler, die staatlichen Organe, staatliches Handeln überhaupt, nun durchweg als mindestens mafia-ebenbürtig zu denunzieren, wie es viele Linke tun. Die italienischen Mafien waren nicht zuletzt Angestellte des Westens im Kalten Krieg gegen den Kommunismus, die aus dem Ruder liefen, als man sie nach 1990 nicht mehr benötigte. Und es gehört zu den spezifischen Schwierigkeiten für jeden, der sich dem Thema nähern will, daß auch die Vertreter des Mobs in Politik, Wirtschaft und Kultur einer Anti-Mafia-Rhetorik frönen.

Tizian beschreibt an mal mehr, mal weniger gut erzählten Fallbeispielen, wie Ndrangheta und Camorra - die neapolitanische Variante des Mobs - im angeblich sauberen Norditalien, speziell in der »roten« Emilia Romagna, Fuß gefaßt haben. Sie werden gebraucht. Man kann mit ihnen Geld verdienen. In einer so grundlegend demoralisierten Gesellschaft wie der italienischen hat das organisierte Verbrechen leichtes Spiel. Es geht bei Tizian um die Durchdringung der Baubranche, um Automatenspiel, Prostitution und Nachtleben - und natürlich um die Droge, das Kokain, das den ganzen Laden immer noch wesentlich am Laufen hält. Tizian beschreibt Koks als kapitalistische Droge: Eine illegale Organisation liefert eine illegale Substanz, damit das legale Leben so laufen kann, wie es eben laufen soll. Ob die Jungs und Mädels auf den Berliner und sonstigen Club-Klos daran denken sollten, daß das Blut, das ihnen je nach Stoffqualität schon mal aus der Nase schießt, eben jenes ist, das sie sich vorher selbst reingezogen haben? Und wer fühlte sich berufen, es ihnen zu sagen?

Mit seinen Recherchen, mit dem Nennen konkreter Namen hat Giovanni ­Tizian großen Mut bewiesen - ein Mut, der bei den meisten Anti-Mafia-Aktivisten aus dem Gefühl für Würde kommt. Das heißt schlicht: Es gibt Schlimmeres als den Tod. Aber meine Befürchtung ist, daß all diese von ihm genannten Namen, die ihm in Italien tödlichen Haß eingetragen haben, in Deutschland verpuffen. Hier bräuchten wir eine Öffentlichkeit, eine Staatsanwaltschaft, eine Polizei und natürlich Journalisten wie Giovanni Tizian.

junge welt, buchmessenbeilage

Blicke: Der Deutschlandachtundachtziger

Allgemein, Kolumne Blicke — admin on August 17, 2012 at 18:10

Mit 23 Jahren darf man ein Auto fahren - und also potenziell eine Menge Leben vernichten. Man hat das passive und aktive Wahlrecht und ist voll geschäftsfähig. Man darf heiraten, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Man ist, kurz gesagt, erwachsen. Im Fall der Ruderin Nadja Drygalla gilt das alles nichts. Jede Menge selbsternannte Papis und Mamis fanden sich bereit, aus einer völlig klaren Angelegenheit „eine schwierige Geschichte” (Spiegel - aber weiß der Führer, nicht nur der) zu machen. Dass Drygalla eine junge, dralle, blonde Frau ist, senkte die patschige Paternalismusschwelle noch einmal beträchtlich: Der greift man doch gern unter die Arme gegen eine angeblich hysterische, weil antifaschistische Öffentlichkeit.

Also hier zum Mitschreiben: Wer in seinem Umfeld einen Nazi hat, setzt ihm eine Frist zur Läuterung. Wenn er Diskussionsbedarf anmeldet - etwa über technische Details der Gaskammern in Auschwitz -, schickt man ihn in eine öffentliche Bibliothek. Wenn er die Frist verstreichen lässt, ist er, was den persönlichen Kontakt angeht, auf Deutsch gesagt weg vom Fenster. Das ist nicht nur eine Frage der Hygiene; das ist ein erprobtes Mittel, um dem Nazi zu signalisieren, dass Nazismus nicht dorf- und schon gar nicht salonfähig ist. Erwachsen ist, wer Entscheidungen trifft.

Wenn also demnächst Ihr Freund seine Eisenstange im Flur abstellt, fragen Sie ihn nicht, wie der Protest gegen die Gedenkveranstaltung für die NSU-Opfer gelaufen ist; Sie antworten auch nicht auf die Frage, wie es beim Rudern so war; sondern Sie weisen ihm die Tür beziehungsweise gehen selbst hinaus.

Frau Drygalla sieht das nicht so. Die Distanzierungen ihres Nazilovers Michael Fischer vom braunen Müll sind zwar hanebüchen, sie aber hält „ungeachtet der öffentlichen Kritik” (dapd) zu ihrem Freund. „Es ist meine Entscheidung, zu ihm zu stehen. Trotz allem, was passiert ist”, wird sie im aktuellen Stern zitiert. Das wird man ein ideologisch verfestigtes Weltbild nennen müssen. Mit ihrem Kampf für arische Privacy hat Frau Drygalla beste Chancen, zur NPD-Ikone zu werden.

Dass der Vorstand des Ruderclubs, in dem Drygalla und Fischer durchdrehten, schon seit Sommer 2010 Bescheid wusste, spricht dafür, in Mecklenburg-Vorpommern lieber für 1 bis 1.000 Jahre das Rudern zu verbieten als die NPD. Die nämlich ist nur so stark, wie man sie sein lässt: was gerade 2.000 Menschen in Pasewalk mit ihrem Protest gegen das Nazitreffen rund um einen Schweinestall im Ortsteil Viereck bewiesen haben. Gemeinsam zeigten sie den Nazis, was eine Sackgasse ist.

Das Problem sind nicht die Braunen; die gibt es schon lange, und es wird sie noch eine Zeit lang geben. Das Problem sind die Leute im Vereinsvorstand des „Olympischen Ruderclubs Rostock”, die von Fischer frank und frei gesteckt bekamen, dass er ein Herrenmensch war und das auch zu bleiben gedachte, und die ihm dann „noch eine Chance geben” wollten (Spiegel). Eine Chance gibt man jemandem, der etwas ändern will. Fischer wollte nichts ändern und trat aus dem Verein aus. Bei Frau Drygalla muss er nicht austreten.

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