Ambros Waibel
Schriftsteller und Journalist. Kontakt: waibel(et)thing.org

ENTRECOTE POUR DEUX 4 (und Schluß) VON RENÉ HAMANN UND AMBROS WAIBEL

Allgemein, Kreuzkölln-Entrecote — admin on November 10, 2010 at 20:31

Die einen machen auf, die anderen zu. Es sollte ein würdiger Abschluss werden in diesem neuen, jungen Restaurant an der Sanderstraße Ecke Hobrecht, dort, wo noch kurz vorher ein türkischer Kulturverein gewesen war. Über den wir nichts zu sagen wissen - wir schreiben aber auch keine humangenetischen Manifeste. Wie Maxim Biller einst sinngemäß sagte: Ich liebe die Türken - aber was habe ich mit ihnen zu tun? Das Unglück der Menschheit besteht darin, dass manche einfach nicht vor sich hin leben können.

Jetzt jedenfalls hieß der Laden “Pika Pika” und war ein aufgeräumtes Lokal, genau ausgerichtet auf die jüngeren und älteren Neuankömmlinge in diesem Kiez. Allerdings ist es noch etwas kahl hier, kühl und karg; an der Rückwand hingen alte Koffer drapiert, was den einen von uns gleich nostalgisch machte. Der andere fühlte sich leicht visuell unterfordert, da half auch der charmante fränkische Akzent der Bedienung nicht viel.

Das Pika Pika sah nun mal aus wie noch nicht wirklich fertig. Die Tische gaben sich individuell; aus der Anlage schlich merkwürdiger Deutschlandfunk-Jazz, der in einer Easy-Listening-Version von Michael Jacksons “Human Nature” gipfelte; und die Karte wurde erst eigens mit Kreide an die Tafel geschrieben, ein Umstand, der zwei Männer in schweren Lederjacken (Russen? Mafia?) dazu trieb, den Laden gleich wieder zu verlassen.

Aber es gab hier Entrecote, und zwar immer. Ein sehr dunkles, gegrilltes Stück Fleisch (rostbratenartig etwas zu dunkel, etwas zu herb, aber von prächtiger Qualität und perfekt medium) mit kleinen Kroketten und Juliennes von der, äh, Schalotte? Wahrscheinlich! Wirkliche Begeisterung löste das Essen nicht aus, trotz freundlichen Services, des guten Biers und des nicht minder guten Weins. Erst das inkonsequente Dessert, das nämlich aus einer Crema catalana bestand und nicht aus einer Crème brûlée, rettete den Gesamteindruck ins Positive.

Der Auftrag konnte als abgeschlossen gelten. Wir hatten genug Tier gegessen, wir waren unserer Zeit in diesem Viertel kulinarisch auf der Spur geblieben. Alt und älter als der Rest waren wir trotzdem. Draußen wurde es Winter. Die Entrecotes hatten uns getröstet. Die letzten zwanzig Jahre seines Lebens soff sich Goethe jeden Tag ab Mittag gepflegt einen an. In der Frühe schrieb er den “Faust”. Die jungen Romantiker schwenkten da schwarz-rot-goldene Fahnen und begannen, gegen die Juden zu hetzen. Wir hatten vor, Einzelne zu bleiben, Asoziale. Oder doch nicht?

Die Frage war jetzt, wohin sich die Gentrifizierung weiterbewegen würde. Auf die andere Seite Neuköllns, insbesondere den Schillerkiez, war sie schon vorgedrungen. Treptow schien noch ähnlich resistent zu sein wie Schöneberg oder Charlottenburg im Westen. Und der Wedding würde eh nie kommen. Immerhin bleibt der Wohnungsmarkt auf Jahre hinaus entspannter als beispielsweise in der heimlichen Hauptstadt des Rheinlands, wo es schließlich keine Traufhöhenregelung, dafür aber eine Aufzugspflicht für Neubauten ab dem vierten Stock gab. Was dazu führte, dass besonders in der Kölner Altstadt gern unterhalb dieser vier Stockwerke gebaut wurde. Oder dazu, dass die Mieten in höheren Neubauten erst einmal unerschwinglich waren. So ein Aufzug will ja gegenfinanziert sein.

Und hier, im hellen Pika Pika, hingen alte Koffer an der Wand. Sorgten für Anwandlungen. Wohnungen, die Sexualobjekte aufreißen konnten. Irgendwo muss ja ein Anfang gemacht sein. In jedem Ende ein Anfang, oder so. Ob der Nudelauflauf auch mal wieder in Mode kommen wird? Wie die Schlaghose? Süß suhlten wir uns im Nichtwissen. Die Zukunft ist eh unvermeidlich.

taz, november

 


 

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Allgemein, Kreuzkölln-Entrecote — admin on September 12, 2010 at 22:25

ENTRECÔTE POUR DEUX

NR. 3

VON RENÉ HAMANN UND AMBROS WAIBEL

Die Unschärferelation ist nicht die Folge von Unzulänglichkeiten eines entsprechenden Messvorgangs, sondern prinzipieller Natur. Das hatten wir dann erst Tage später gelesen. Aber den Abend über hatte sich die Sache mit Heisenberg immer wieder in unsere Gespräche gedrängt, schon als wir gar nicht mehr wussten, wer sie eigentlich zuerst aufgemacht hatte. Das Essen war aber jedenfalls total schön gewesen.

Die Luft war eigentlich schon zu kalt, um draußen zu sitzen, die Wespen in ihrer Furcht vor dem nahen Ende waren lästig. Aber es hing etwas Belebendes in der Luft, die Magie des Herbstes. Das Licht war sehr klar, und beide hatten wir am Wochenende Großaufgaben zumindest vorläufig abgeschlossen, der eine die Steuer, der andere einen Roman. Und

es war super gewesen, dass den Leuten vom “Liberda” in der Pflügerstraße an diesem Tag das Hüftsteak ausgegangen war und sie das Wort “Hüftsteak” nach “Argentinisches” auf der einheitlich sauber beschriebenen Kreidetafel durch “Entrecote” ersetzt hatten. Sonst wäre es eben blöd gewesen, und wir hätten zu Hause sitzen und Playstation spielen müssen. Oder sonst was Berufsjugendliches.

Das “Liberda” hat ohnehin etwas Mütterliches. Es ist ein super Nachbarschaftslokal ohne große Ansprüche an sich selbst und an seine Gäste. Mittelklasse für die Mittelschicht, perfekt für das anrührend gelungene Paar, das dann auch entsprechend anschaulich im Schaufenster saß und sich eine Portion teilte — es sah so aus, als ob sie dasselbe genommen hätten wie wir. Es gab ein Entrecote, gut durch, es gab Kartoffeln, es gab Salat und alles schmeckte so neutral und vertraut wie das Beck’s-Bier dazu. Dabei war der Start des Lokals traurig gewesen, denn der familiär geführte Kleinsupermarkt, der die Räume früher gefüllt hatte, war eines der ersten Opfer des Wachwechsels im Kiez geworden. Der stets lächelnde Patriarch hatte es dann in Schöneberg versucht, war aber krank geworden und nun sah man ihn manchmal melancholisch um den Reuterplatz laufen.

Am Nebentisch nahmen nach einer Weile eine Tochter mit ihrem Vater Platz, beide auf eine ungewohnte Art proletarisch, so direkt und etwas grob in der Wortwahl, was nehmen wir denn, hatte der Vater gefragt, und die Tochter hatte gesagt, das machen wir ganz einfach, ich nehme die Fenchelsuppe und du Spaghetti mit Ragu, und so war auch das geklärt, und dann begann die Tochter von so konkreten wie zurückhaltenden Fragen unterbrochen, dem Vater ihre ökonomische Situation zu schildern, 180 für Miete, 150 für Essen, es fiel das Wort Bootsbau, es war von Selbständigmachen die Rede und es kam der Satz vom Job, den sie schon finden würde. R. hatte von seinem Vater erzählt und seinem Faible für die handfesten Dinge des Lebens, und die Unschärferelation und das Wesen der Elektromechanik. A. erzählte von der Kommunikation, die man anbieten kann, von sich aus aber nicht suchen muss. Das Entrecote indes ließ sich essen ohne ihm Aufmerksamkeit zu schenken, wie ein Burger bei McDonalds, man musste die Konversation nicht aufs Essen ausrichten. Und weil wir das Fleisch nicht beobachtet hatten, veränderte es sich auch nicht — waren wir so auf Heisenberg gekommen?

Als wir dann zahlten, war der Laden voll, der Kellner war am Rennen gewesen, aber immer zuvorkommend. Am Nebentisch hatte der Vater ein DIN A5 Schulheft gezückt und diktierte der Tochter Nummern von Gastrochefs. Zweifellos würde sie einen Job bekommen. Wir sprachen da schon über Suhrkamp, die Fehler, die man machte, das Hausrecht der Hausautoren zu hauskritischen Artikeln kritisch zu sein, und über K. Und seine wirklich bewundernswerte Begabung für Geschichten ohne Pointe. Wahrscheinlich war er gar nicht ihr Vater.

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Allgemein, Kreuzkölln-Entrecote — admin on September 12, 2010 at 22:20

ENTRECÔTE POUR DEUX

NR. 2

VON RENÉ HAMANN UND AMBROS WAIBEL

Klar, zum Fleisch gehört Rotwein. Blut zu Blut, Medium zum Medium. Das Blut der Rinder, das Blut der Herren. Das Blut der französischen Soldaten. Entrecote kam diesmal “in der Qualität von Charolais” - was das auch immer heißen mag: Aßen wir nun ein Teil dieses süßen, mächtigen, schneeweißen französischen Rinds - oder zerschnitten wir mit holzbegrifften Steakmessern von Nirosta etwas Charolaisähnliches, so wie es inzwischen Käseähnliches gibt auf den Billigpizzen dieser Welt? Und wieso fragten wir nicht nach?

Weil wir schlicht die Zeit vergaßen, uns besprechend. Über Eltern. Über den Rhein. Über Leben an der Staatsgrenze. Über den Satz, dass am Ende jeder auf sich selbst zurückgeworfen ist - und ob diese Phrase nicht eine der ganz üblen Phrasen ist. Ähnlich oder authentisch - wir tafelten in der Tradition der Bourbonen, mit Schalottenconfit (heißt, die Schalotten wurden eingekocht) und Kartoffelgratin. Das Fleisch ließ auf sich warten, und kam dann eine Spur zu saignant. Groß wie ein Teller. Mitunter verknorpelt. Sonst muy rico, und für die Beilagen muss es Extrapunkte geben. Nur Bluna sollte man nicht zu dem Menü trinken. Bluna verbreitet zu viel Regression in dieser Zone des langsamen Fortschritts.

Wir hatten es diesmal über die Brücke geschafft, so wie Hugo. Hugo, der eigentlich Felix heißt und mit Nadja verheiratet ist, hatte zuerst die Kantina in der Friedelstraße, dann hat er dankenswerterweise das Maybach von einem grässlichen Bartträger übernommen, hier drüben in der Ohlauer Straße; der Laden läuft jetzt unter “Nudel-Hugo” und verbreitet mit seiner gartenartigen Terrasse einen mediterranen, postakademischen Charme.

Natürlich wird italienisch geredet, die mit den blauen Augen am Nebentisch hat gleich ein Wörterbuch mitgebracht. Und natürlich wird spanisch gerrrrollt. Für die Kleinen gibt es einen kleinen Sandkasten. Die Bedienungen sind freundlich-vorwitzige Jungs. Sie haben was Sizilianisches - der Espresso ist ja auch gut, und wenn man zum Abschluss einen Brandy bestellt, dann bekommt man auch einen Brandy und kein studentisches “Hä?”.

Über die Brücke kamen wir in die Zone des Fortschritts, die Neuköllner Spielwiese schwappt an die Carportlandschaft des mittleren Kreuzbergs, dorthin, wo der Weg zum Dealer nicht weit ist. Das G-Wort fiel natürlich auch. Das G-Wort fällt natürlich überall. Der Fortschritt ist nicht mehr aufzuhalten. Vermutlich auch in der blutüberströmten Küche des Nudel-Hugo. Wir stellen uns den Nudel-Hugo als Comicfigur vor, so wie neulich Major Grubert, und nicht als reale Person, die Pachtverträge unterschreibt und einen arbeitslosen Koch einstellt. Es läuft nicht so wie in Mitte. Noch lange nicht. Wir werden noch Glück haben zehn Jahre lang. G-Wort hin oder her.

In den sechziger Jahren, lesen wir bei Roland Barthes, war das Entrecote das perfekte Mahl für den Junggesellen, da es Einfachheit und Anspruch aufs Beste vereinigte. Der nicht kochen könnende Junggeselle ist in unserer flexiblen Gesellschaft allerdings verschwunden, das heißt, es gibt ihn wohl noch, aber wer nicht kochen kann, hat auf dem Distinktions- und Beziehungsmarkt keine Chance. Dazu mehr bei Bourdieu.

In Mode ist dagegen wieder der Junggesellenabschied gekommen, als weitere aus Amerika kopierte Tradition der letzten männlichen Ausschweifung vor der Hochzeit. Die Hochzeit wird verschoben, immer weiter nach hinten, lebt aber wie andere Relikte der alten Bourgeoisie in neuem Gewand wieder auf.

Auch wenn die Ewigkeit heutzutage nur noch drei Tage dauert, und man am Ende wieder - auf sich selbst zurückgeworfen ist.

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